[Quelle: symptome.ch, Autor: Prof. Dr. Spitz, Coautor: Prof. Dr. Höppner, 26.08.2013, alle Bildquellen: symptome.ch]
Jedes Märchen enthält einen Kern Wahrheit. So ist es auch mit dem Medienmärchen von den schicksalhaften Brustkrebs-Genen. Anlass für meine Beschäftigung mit dem Märchen ist der Medienrummel, der durch die Mitteilung des Filmstars Angelina Jolie ausgelöst wurde. Sie hatte sich beide (gesunden) Brüste amputieren lassen, weil sie Trägerin eines Brustkrebs-Gens ist und fürchtete das Risiko, frühzeitig wegen eines bösartigen Tumors der Brust (Mammakarzinom) versterben zu müssen. Die Reaktionen über diese Therapie reichten (nicht nur bei den potentiell betroffenen Frauen) von ungläubigem Kopfschütteln über Bewunderung für den Mut bis hin zu einem sprunghaften Anstieg von genetischen Untersuchungen.
Ich möchte daher mit diesem Artikel einige Aspekte in den reichlich verbreiteten Medienmärchen zurechtrücken und zusätzliche Informationen über den heutigen Stand der Krebsentstehung und -Verhütung vermitteln – nicht nur in Bezug auf den Krebs der Brust. Wie bereits im Vorspann zum Blog angekündigt, hole ich mir in Abhängigkeit von dem jeweiligen Thema einen Experten als Co-Autor hinzu. In diesem Fall ist es Prof. Dr. Wolfgang Höppner aus Hamburg (Einzelheiten zu seiner Person finden sich am Ende dieses Artikels).
Gibt es krebsauslösende Gene für Brustkrebs?
Fakt ist, dass Angelina Jolie zu den wenigen Menschen gehört, die von einem Elternteil eine krebsfördernde Keimbahnmutation vererbt bekommen haben. Dass Genmutationen eine Rolle bei der Krebsentstehung spielen ist nunmehr seit mehr als 25 Jahren bekannt. Neueren Datums ist das Wissen, dass der Brustkrebs (anstelle des Fachausdrucks „Mammakarzinom“ wird im Text von wenigen Ausnahmen abgesehen durchgehend von „Brustkrebs“ gesprochen) eine extreme genetische Heterogenität aufweist. Ganz wichtig ist jedoch das Bewusstsein, dass es sich bei den BRCA-Genen nicht um krebsauslösende Gene handelt, sondern vielmehr um eine Schädigung von Reparatur-Genen, die eigentlich in der Lage sind, die immer wieder auftretenden Schäden des Erbgutes zu reparieren. Diese „selbst heilende Eigenschaft“ entfällt durch die vererbte Schädigung des Gens in allen Körperzellen.
Der Verlust kann nur teilweise von anderen Reparaturmechanismen ausgeglichen werden. Durch die ererbte Mutation wird das Risiko für eine Krebserkrankung erhöht, da der erste Schritt der Umwandlung einer normalen Zelle in eine bösartige Tumorzelle bereits vollzogen ist. Die Zellen sind damit aber noch keine Tumorzellen. Es ist nämlich auch seit längerem bekannt, dass weitere „Treffer“ folgen müssen, die durch molekulare Schädigungen der DNA zusätzlich andere „Krebsgene“ entstehen lassen und mit der Zeit aus wenigen „zufällig getroffenen“ Zellen bösartige Krebszellen entstehen lassen.
Die Auslöser dieser weiteren Schritte in der Krebsentstehung sind für Angelina Jolie die gleichen, denen alle Menschen ausgesetzt sind (siehe spätere Ausführungen). Der tragische Unterschied für Träger einer krebsauslösenden Keimbahnmutation ist, dass aufgrund des bereits in allen Zellen vorhandenen 1. Treffers (in Form der Keimbahnmutation) ein „Vorsprung“ von 15 bis 30 Jahren bezüglich des Risikos der Krebsentstehung besteht (genetische Instabilität der Zellen). Abb. 1 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Wahrscheinlichkeit der Tumorentstehung und dem Alter.
Als Besonderheit entwickeln sich bei den erblich belasteten Frauen mehrere Tumoren gleichzeitig (multifokal) und Tumoren in mehreren Organen (beim BRCA1-Gen Brust, Eierstöcke, Darm und Prostata). Eine Operation zur prophylaktischen Entfernung eines potentiell vom Krebs betroffenen Organs erscheint nur auf den ersten Blick eine plausible Therapie. Was aber, wenn mehrere Organe betroffen sein können? Und was, wenn es sich um ein Organ handelt, dessen Funktion schwierig zu ersetzen ist?
Abb. 1: Zu erwartendes Risiko für Trägerinnen des BRCA 2 Gens in Verbindung mit weiteren Risikofaktoren (SNPS-Genveränderungen) und in Abhängigkeit vom Alter ein Mammakarzinom zu entwickeln. Deutlich wird die breite Streuung der Werte als Ausdruck der Unsicherheit der Vorhersage, insbesondere im höheren Lebensalter (nach Gaudet MM, 2013).
Man kann sich vielleicht vorstellen, wie schwer der Entscheidungsprozess für Arzt und Patientin zur Entfernung der Brüste und möglicherweise auch noch der Eierstöcke bei dieser Diagnose ist. Allerdings, eine Minderung des Krebsrisikos auf normale Werte hat man mit dieser Therapie noch lange nicht erreicht. Genau diese Perspektive ist jedoch eines der Anliegen unseres Artikels. Das zweite Anliegen ist es, den falschen Eindruck zu beseitigen, Frauen ohne Nachweis eines ererbten Krebsgens seien damit ohne Risiko und aus dem Schneider: jede 8. Frau erkrankt in ihrem Leben an einem bösartigen Tumor der Brust, davon die Hälfte vor dem 65. Lebensjahr und die große Mehrheit (das sind etwa 95 %, ) entwickeln den Brustkrebs vor allem aufgrund von Umweltrisiken und Lebensstil, jedoch nicht aufgrund einer Genmutation. Diese Zusammenhänge und die daraus resultierenden Möglichkeiten zur Vermeidung des Brustkrebses sollen im Folgenden dargelegt werden.
Reguliert das Gen die Zelle … oder umgekehrt?
Wie wir seit der Jahrhundertwende wissen, regulieren nicht die Gene die Zelle, sondern die Zelle reguliert ihre Gene (also auch die so genannten Tumor-Gene), je nach den Erfordernissen des Zellstoffwechsels. Ein Tumor-Gen kann sich also in der Regel nicht einfach selbst anschalten. Die Steuerimpulse innerhalb der Zelle werden abgestimmt mit Informationen, die von außen an die Zelle herangetragen werden. Dies können Hormone, Nervenimpulse, Zytokine und andere Botenstoffe oder auch mechanische Veränderungen im Extrazellularraum sowie Mikronährstoffe aus der Nahrung sein. Dieses komplexe Wechselspiel von Genen und Umwelteinflüssen nennt sich Epigenetik und kann aus Platzgründen hier in seiner ganzen Breite nicht erläutert werden.
Fakt ist jedenfalls, dass sich ein bösartiger Tumor nur aus dem Zusammenspiel von einer Vielzahl von Faktoren entwickeln kann, zu denen neben den beiden zitierten Brustkrebs-Genen zahleiche Faktoren unseres Lebensstils zählen. Dabei gilt diese Voraussetzung auch für alle späteren Entwicklungsstadien eines Tumors und seiner Metastasen. Dies bedeutet, dass ein einmal entstandener Tumor nicht zwangsläufig immer weiter wächst und seinen Wirt zerstört. Das geschieht nur, wenn über Jahre hin in diesem Körper immer wieder die tumorfördernden Faktoren die hemmenden Faktoren überwiegen, d.h. der Körper in seiner ursprünglichen Steuerung und Funktion gestört ist. Umgekehrt ist der Körper in aller Regel in der Lage, umgehend auf das Tumorgeschehen zu reagieren, sobald die ursprünglichen Schutzfunktionen wieder hergestellt werden. Die Tumorgenese ist allerdings eine Kaskade von molekulargenetischen Veränderungen, bei der jede Stufe die Zelle tumorgenetisch weiter destabilisiert. Je weiter dieser Prozess fortgeschritten ist, desto weniger haben die „ursprünglichen Schutzfunktionen“ eine Chance. Diese Regel gilt natürlich auch für therapeutische Ansätze wie Chemotherapie und Strahlentherapie.
Wer also nach der Diagnose einer Tumorerkrankung in einem ganzheitlichen Ansatz seinen Körper und seinen bisherigen Lebensstil einer kritischen Analyse unterzieht, wird mit Sicherheit einige Faktoren erkennen, die tumorförderlich gewesen sind – dies gilt auch für den Brustkrebs. Gelingt es den Betroffenen, diese Faktoren positiv zu beeinflussen oder gar zu beseitigen, haben sie gute Chancen, zusätzlich zu der üblichen Behandlung auf das weitere Tumorgeschehen Einfluss zu nehmen. Andernfalls nimmt das Schicksal seinen Lauf. Um das komplexe Geschehen etwas zu veranschaulichen, sollen im Weiteren einige Faktoren etwas näher erläutert werden.
Die Regenerationsfähigkeit unseres Körpers
Hier soll jetzt nicht die Rede sein von Früherkennung oder der Vermeidung hinreichend bekannter Risiken wie Rauchen oder giftiger Substanzen aus der Umwelt. Genauso wichtig, jedoch bislang viel zu wenig beachtet, sind nämlich positive Schutzfaktoren, über die der Körper eigentlich verfügt. Bereits bei der immer wieder als schicksalhaft beschworenen Schädigung des Erbgutes, also eines Gens z. B. durch eine ionisierende Strahlung oder eine chemische Einwirkung auf die Erbsubstanz, ist damit der Krebs noch längst nicht entstanden, wie zuvor bereits ausgeführt. Der Körper verfügt über mindestens vier verschiedene Reparatursysteme in der Zelle, die das Erbgut wieder reparieren können. Da sich das Leben auf der Erde unter ständig einwirkender ionisierender Strahlung entwickelt hat, kann die Natur mit solchen Pannen umgehen. Unsere Gesundheit ist dadurch nicht in Gefahr. In einer der größten wissenschaftlichen medizinischen Datenbanken finden sich zum Zeitpunkt der Abfrage im August 2013 mehr als 180 Artikel zum Thema DNA-Reparatursysteme.
Reicht die Reparaturfähigkeit einmal nicht aus, sorgt ein weiterer Mechanismus dafür, dass diese Zelle mit ihrer gestörten Gensequenz nicht zu einem bösartigen Tumor wird: die Apoptose, der programmierte Zelltod, ein seit langem bekanntes Phänomen, das jedoch bei den Diskussionen um die schicksalhafte Tumorentstehung durch einen genetischen Schaden gerne vergessen wird (mehr als 70.000 Einträge in der oben genannten Datenbank!). Der Anstoß für die Apoptose kommt entweder aus der Zelle selbst oder von den umgebenden Zellen, die genauestens über das Geschehen in ihrer Nachbarschaft informiert sind. Alle Zellen sind nämlich untereinander durch Brücken verbunden, die nicht nur der Fixierung an diesem Ort dienen, sondern auch dem Informationsaustausch. „Man“ weiß also sehr genau, wie es dem Nachbarn so geht. Werden „Unregelmäßigkeiten“ in der Nachbarschaft festgestellt, wird der Nachbar zur Ordnung gerufen. Reagiert die betroffene Zelle nicht so, wie es sich gehört, wird von den Nachbarzellen die Apoptose eingeleitet, die betroffen Zelle aufgelöst und der Tumor somit an seiner Entstehung gehindert. Der Verlust einer einzelnen Zelle stört den Körper angesichts einer Gesamtzahl von mehr als 100 Milliarden Zellen überhaupt nicht.
Vitamin D als Beispiel für Steuerungsfaktoren, die einen Tumor ausbremsen
Erst wenn diese Zellbrücken aus irgendwelchen Gründen nicht mehr vorhanden sind, kann die „entartete Zelle“ versuchen, ihr bösartiges Spiel weiter zu spielen. Doch auch dann ist sie noch weit davon entfernt, sich problemlos zu vermehren, und einen Tumor und später Metastasen zu bilden. Beispielhaft für zahlreiche andere Faktoren sollen die umfangreichen Schutzfunktionen von Vitamin D, dem Sonnenhormon, vorgestellt werden. In den Tabellen 1A und 1B ist die Entwicklung eines bösartigen Tumors durch alle Stadien hindurch bis zur Metastase schematisch dargestellt. Auch die Entwicklung beim Brustkrebs entspricht weitgehend diesem Schema. In der letzten Spalte der Tabellen findet sich dabei jeweils die Information, welche Wirkung das Sonnenhormon in diesem Stadium hat.
Tab 1A: Schematische Darstellung des Beginns einer Tumorentwicklung im Körper und Einfluss von Vitamin D auf die Entwicklung von Krebszellen (nach Spitz J und Grant B, 2010 übersetzt aus Garland CF 2009)
Tab. 1B: Schematische Darstellung einer Tumorprogression Vermehrung der Krebszellen, Bildung von Metastasen und die Wirkung von Vitamin D auf diesen Prozess (nach Spitz J und Grant B 2010, übersetzt aus Garland CF 2009)
Angesichts der vielfältigen Wirkungen von Vitamin D auf das Tumorgeschehen sollte man annehmen, dass sich dieser Effekt auch in einschlägigen Studien dokumentieren lässt. Dies ist in der Tat so. So fanden französische Wissenschaftler eine eindeutige Abhängigkeit der Häufigkeit des Mamma Karzinoms vom Breitengrad des Wohnortes in Frankreich (mit entsprechend unterschiedlicher Sonnenexposition) und von der Zufuhr von Vitamin D als Nahrungsergänzung. In Deutschland berichteten Mitarbeiter des deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg über eine ausgeprägte Abhängigkeit des Brustkrebses vom Vitamin D Spiegel im Blut postmenopausaler Frauen (Abb. 2).
Für Frauen mit einem normalen Vitamin D Spiegel reduzierte sich das Risiko für Brustkrebs um 70 %!
Abb. 2: Risikoreduktion für die Entwicklung eines Mamma Karzinoms bei deutschen postmenopausalen Frauen in Abhängigkeit vom gemessenen Vitamin D Spiegel (Abbas 2008)